St. Brictius
Älter als die Braunschweiger Kirchen: St. Brictius
Superlative schmeicheln. Welcher Sportler möchte nicht schneller laufen können als sein Konkurrent, welche Mannschaft nicht an der Spitze der Tabelle stehen, wer nicht der Klügste der Klasse sein, anderen mit Großtaten imponieren? Na ja, wenigstens ein bißchen, denn als überheblich möchten wir doch nicht gelten. Auch wir Lindener nicht. Aber trotzdem macht es uns ein wenig stolz, ein Bauwerk zu besitzen, das nicht das älteste unserer Region ist, aber immerhin älter als der weithin berühmte Braunschweiger Dom und dem gleichen Zweck dient: unsere Kirche St. Brictius. 55 Jahre früher als für den Dom St.Blasius und übrigens 490 Jahre vor der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis , beide freilich auf dem Platz von Vorgängerkirchen oder -kappellen gebaut, wurde der Grundstein für St. Brictius gelegt, die aus Bruchstein im romanischen Stil aufgeführt wurde. Obwohl sie in ihrer fast neunhundertjährigen Geschichte Veränderungen und Erweiterungen erfahren hat und ihre Baugeschichte erst in den letzten vierhundert Jahren gut dokumentiert ist, lassen ihre Stilmerkmale und hre einfache, strenge Bauform den anfänglich kürzeren und mit weniger und kleineren Fenstern versehenen Ursprungsbau vor unseren Augen entstehen. Offen bleibt die Frage, ob St. Brictius im Osten mit einer Apsis abschloß oder einen rechteckigen Grundriß besaß. Abgesehen von dem Abriß einer kleinen Sakristei im Jahre 1696 und Vergrößerungen der Fenster etwa zwanzig Jahre später, erfogte eine größere Veränderung 1865: die Kirche wurde um 12 Fuß, also knapp 4 Meter, nach Osten erweitert. Viele Lindener können sich an die letzte bauliche Veränderung erinnern. Vor sechsundzwanzig Jahren wurde die Seitenemporen abgerissen. Neuer Raum wurde dadurch geschaffen, daß ein Geimeindehaus angebaut wurde, dessen Gemeinderaum nach dem Durchbruch zur Kirche Platz für zusätzlich 100 Gottesdienstbesucher bietet. Ein Hinweis auf ein Kleinod sei hier noch angefügt, besonders auch im Hinblick auf den Umbau des Taufsteines. Betrachten Sie doch einmal die Taufschale. Sie ist aus Messing getrieben und mit einem umlaufenden barocken Blütenrankenfries und Blütenformen reich graviert und belebt. Die Inschrift weist auf die Stifter hin. Ihr Fertigungsdatum: 1669.
Frank Arnold
Der heilige Brictius
Kirchen erhielten einst bei ihrer Weihung Namenspatrone. Der Braunschweiger Dom wurde St. Blasius geweiht, die größte und älteste Kirche in Wolfenbüttel trägt den Namen der Beatae Mariae Viginis, also der heiligen Jungfrau Maria, unsere Kirche wurde St. Brictius geweiht. Gebraucht werden diese Namen aber recht selten. Wir sprechen vom Dom, der Hauptkirche und der Lindener Kirche. Ein Grund dafür ist, dass für evangelische Christen die Heiligen ihre einst hohe Bedeutung verloren haben und wir daher mit Namen wie St. Blasius und St. Brictius keine konkreten Vorstellungen mehr verbinden. Die Spurensuche führt uns weit zurück an den Ausgang der Antike nach Tours in Gallien, dem heutigen Frankreich. Dort lebte um 350 der hl. Martin, dessen Andenken im Martinstag wachgehalten wird. Brictius, dessen Name auch mit Cricctius und Brictio überliefert wird, wurde in das Kloster des Martin von Tours aufgenommen, empfing dort die Priesterweihe, überwarf sich aber dann bald mit seinem Ziehvater, dessen weltabgewandte, asketische und demutsvolle Haltung er offensichtlich nicht schätzte.Brictius scheint das Leben außerhalb der Klostermauern vorgezogen zu haben. Es kam im Klerus zu Spannungen und Anfeindungen, die darin Ausdruck fanden, dass Brictius vorgeworfen wurde ein sündhaftes Leben zu führen und Vater eines Kindes zu sein. Brictius widersetzte sich energisch den Vorwürfen, unternahm eine Wallfahrt nach Rom und, was für unsere Vorstellungen höchst merkwürdig, aber damals durchaus üblich war, unterwarf sich einem Gottesurteil, indem er glühende Kohlen in seinem Mantel zum Grab des hl. Martin trug. Da der Legende nach die glühenden Kohlen seinen Mantel nicht versengten, galt er als unschuldig. Im Jahre 397 wurde Brictius Bischof von Tours. Er baute daraufhin die erste Kirche außerhalb der Mauern von Tours, die er dem hl. Martin, seinem Vorgänger, weihte. Die Spannungen zwischen den Mönchen und den außerhalb des Klosters lebenden Priestern hielten jedoch an. Brictius wurde mehrfach angeklagt, die Beschuldigungen wurden aber auf Synoden abgewiesen. Brictius starb um 440. Er wurde in der Kirche St. Michele in Pavia beigesetzt. Der Namenspatron unserer Kirche wurde auch als Schutzpatron bekannt. Die Gläubigen hofften, indem sie ihn anriefen, auf seine Vermittlung und Unterstützung in Notlagen. So gilt er als Schutzpatron der Kinder, Jugendlichen und Studenten und nach einer anderen Quelle als Patron der Richter. Auch bei Leibweh und Unterleibskrankheiten versprachen sich seine Anhänger Hilfe von ihm. Der Namenstag unseres vielseitigen Schutzpatrons ist der 13. November.
Frank Arnold